Die 86. Spielminute läuft. 2:2 steht es beim Saisonauftakt der Aachener Alemannen. Noch einmal treiben sie den Ball in den gegnerischen Strafraum. Dann eine galante Drehung, ein gekonnter Abschluss und die ersten drei Punkte der jungen Spielzeit sind eingetütet.
Doch statt Torjubel auf den Tribünen ploppen in einer Textbox zahlreiche Glücksbotschaften an den Siegtorschützen auf. Der heißt auch nicht Florian Rüter, sondern Christian Rischer und spielt für die erste Fifa-Mannschaft der E-Sports-Abteilung der Alemannia.
Am vergangenen Montag absolvierte das Team den erfolgreichen Saisonstart, nachdem sie Ende Februar noch knapp die Klasse in der Relegation halten konnten. Während die Corona-Krise Sportarten rund um die Welt auf Eis legt, konnten die E-Sportler ohne größere Probleme in die neue Spielzeit gehen, betont Alemannias Abteilungsleiter Gregor Forst.
Elf gegen elf wird in der erstklassigen „NGL Premiership” mit 20 Teams in zwei Divisionen gespielt, jeder der Spieler übernimmt ein virtuelles Pendant und erfüllt seine Rolle und taktische Vorgaben wie auf dem echten Platz. Voraussetzung der Liga: Die Spieler müssen realen Fußballvereinen angehören. Das erhöhe die Attraktivität und Vermarktbarkeit. Und so finden sich in der Tabelle international bekannte Vertreter wie der FC St. Pauli und Austria Wien neben Alemannias Regionalliga-Konkurrenz vom SC Verl oder Kreisligisten wie eben jenem Auftaktgegner der Aachener, dem SV Millingen. Sogar ein eigenes Topspiel wird pro Spieltag live auf der Plattform Twitch gestreamt, die Alemannia überträgt ohnehin ihre Partien und Turniere (> Info). Fans, die unter Fußball-Entzugserscheinungen leiden, können hier mit sicherem Abstand die Spiele verfolgen.
Einzig auf Mannschaftstreffen müsse man aktuell verzichten. Dabei sei die Abteilung eigentlich gerade auf der Suche nach festen Räumlichkeiten gewesen. Turniere, wie die Vereinsmeisterschaft, fanden bisher bei verschiedenen Sponsoren statt, berichtet Gregor Forst, der gleichzeitig Vorsitzender der Fan-IG ist.
Für die Spieler sei es aktuell ein bisschen „wie im Homeoffice”. Am Samstag absolvierten sie noch von Zuhause den „Öcher Vereinspokal”, der unter anderem mit Babelsberg, St. Pauli und Wien stark besetzt war. Für eine regionale Note sorgte die Kreisliga-D-Mannschaft des SV Falke Bergrath aus Eschweiler.
Erfahrungen mit virtuellen Turnieren hat Forst ohnehin: 1994 richtete er zum ersten Mal das Eins-gegen-Eins-Turnier „Dr. Forstbach-Cup” an der Konsole aus, das damit eins der ältesten im deutschen Fußball-E-Sport ist und heute traditionell den Abschluss der Saison darstellt, bevor die neue, jährliche Ausgabe des Spiels erscheint.
Ständig steht Forst im Austausch mit anderen Vereinen und alle wissen, dass diese aktuelle Krise auch eine Chance für den E-Sport ist, für sich zu werben. Nicht wenige Fußballfans stehen dem virtuellen Sport noch kritisch gegenüber. Doch das kann sich ändern, weiß auch Forst. Längst haben Bundesligisten erfolgreich E-Sportler in Fifa, aber auch in Ego-Shootern und Strategiespielen angeworben. Mit den Trikots der Vereine machen die Spieler automatisch Werbung für ihre Disziplinen. „Das ist die Zukunft”, betont Forst, der sich mit der Alemannia für einen besonderen Weg entschieden hat.
Denn sie haben sich selbst eine Quote an regionalen Spielern auferlegt. 90 Prozent des Kaders müssen aus dem Aachener Raum kommen. Zudem muss jeder seinen Mitgliedsbeitrag an den Verein leisten. Dafür bleibe man lokal verwurzelt und die Spieler, die mit Saisontrikots und digitalen Autogrammkarten ausgestattet werden, zahlen dieses Vertrauen mit einer tollen internen Atmosphäre zurück, berichtet der Abteilungsleiter, der selbst als defensiver Mittelfeldspieler in der Mannschaft aktiv ist und einer der drei Teammanager ist.
„Sie können sich ihren Traum erfüllen, für ihre Alemannia zu spielen”, ergänzt er. So geht es auch Spieler Sebastian Kraus: „In meiner aktiven Zeit als Fußballer hat man immer schon hoch geschaut zur Alemannia. Ich spiele jetzt meine zweite Saison hier und bin auch sehr stolz, den Adler auf der Brust zu tragen.”
Breitensport als Basis
In den meisten Sportarten sei es so, dass sich aus dem Breitensport langsam der Profibereich herausgebildet habe. Im E-Sport sei das für gewöhnlich andersherum: Vereine beschäftigen nur Profiabteilungen. Für Amateure läuft das oft lediglich in losen Organisationen oder dem vorgegebenen Rankingsystem der Spiele ab. Genau daran wollte Forst ansetzen und in Aachen aus einer breiten, lokalen Basis heraus in höhere Ligen vorstoßen, am liebsten natürlich mit Anhängern der Tivoli-Kicker. Nach einem Aufruf für neue Spieler in einschlägigen Gruppen der Sozialen Netzwerke trudelten unlängst mehr als 60 Bewerbungen bei ihm ein. Mit insgesamt 64 Mitgliedern im Register konnte die Abteilung nun auch eine zweite Mannschaft in Fifa gründen.
Einer der Spieler ist Thomas Guske, für den es gerade in der aktuellen Zeit ein besonderes Hobby ist: „Der Corona-Virus hat uns alle fest im Griff. In dieser Zeit, in der man sich teilweise eingesperrt fühlt, ist es wichtig, soziale Kontakte über andere Wege zu pflegen. Wenn man das dann noch mit seinem Hobby und seiner Liebe zu einem Verein verbinden kann, dann ist das etwas ganz besonderes, dann ist das Alemannia Aachen. Bei diesem Verein, mit diesen Jungs in der aktuellen Zeit Fifa zu zocken, macht für mich die aktuelle Zeit erträglicher.”
Auch Profi-Kicker melden sich bei der jüngsten Abteilung des TSV Alemannia Aachen. Ein Spieler des derzeitigen Kaders beschäftige sich im Rahmen seiner Bachelorarbeit mit dem Thema. „Wir bekommen sehr häufig Anfragen für Abschlussarbeiten”, sagt der stolze Abteilungsleiter, der ein gestiegenes Interesse registriert.
Das Spiel Fifa kann viel mehr sein als nur ein Zeitvertreib, fasst Forst zusammen, der natürlich hofft, dass der eine oder andere Alemannia-Fan bei den nächsten Partien online mitjubelt. In Begeisterung für den Sport stehe sein Team den Fußballern in Nichts nach. Heute Abend (20.30 Uhr) geht es jedoch erstmal ins virtuelle Westfalen. Der FC Galaxy Steinfurt wartet als nächster Gegner.