Es ist noch nicht einmal vollständig, aber schon jetzt ein Monumentalwerk des ostdeutschen Fußballs: Gerade ist der zweite Band von „Chemie Leipzig und seine Fans“ erschienen. Wir haben uns mit dem Herausgeber Jens Fuge unterhalten.
„Ich habe viel gelernt bei der Recherche für dieses Buch“, steht irgendwo im Vorwort des ersten Bandes von „Chemie Leipzig und seine Fans“. Als Jens Fuge seinen 2,5-Kilo-Wälzer - Haupttitel „Steigt ein Fahnenwald empor“ – im Dezember 2016 veröffentlichte, war ihm längst klar, dass sein Vorhaben ein Großprojekt werden würde. 1500 Seiten pure Chemie-Geschichte kündigte er damals an. In drei Bänden. Nun ist mit „Kennst du den Platz, wo die Sonne stets lacht?“ der zweite erschienen. Und schon auf den ersten Blick wird klar, das Großprojekt ist ein Mammutprojekt geworden : 1164 Seiten hat Fuge gemeinsam mit Mitschreiber Ray Schneider zusammengetragen. 1164 Seiten, die voller Chemie-Geschichte stecken: Fotos, Fanzine-Ausschnitte, Stadionhefte, alte Tickets, Spielberichte, Zeitzeugengespräche und Text, Text, Text.
Dass der glühende Chemie-Fan, der seine Chronik 2018 abschließen will, dabei eine Menge über die 85-jährige Geschichte seines Vereins gelernt hat, dürfte nicht besonders schwer nachzuvollziehen sein. Aber die Feststellung im eingangs erwähnten Vorwort ging noch etwas weiter: „Ich habe viel gelernt bei der Recherche für dieses Buch. Vor allem über mich selbst.“
Jens, was war die wichtigste Lehre, die Du nach jahrelanger Arbeit an der Chemie-Geschichte über Dich selbst gezogen hast?
Dass man auch noch leichter "nein" hätte sagen können. Ich will nichts aufs Alter schieben, aber es fehlte Lebenserfahrung und manchmal auch noch mehr klare Kante. Aber mit 16, 17, 18 weiß man eben noch nicht wirklich viel über das Leben und die Menschen und hat deshalb Vorstellungen, die realitätsfremd sind. Damals war das einerseits gut und auch wieder schlecht.
Inwiefern?
Es war gut, weil wir dadurch Dinge getan haben, die eigentlich Irrsinn waren wie die illegale Fanclubzeitung oder das Bepöbeln von vermeintlichen Stasi-Leuten. Schlecht, weil man noch mehr für das Aufdecken von Missständen und Lügen in der DDR einsetzen hätte können und müssen. Soweit war ich damals persönlich noch nicht.
Nicht getroffen, egal, weiter geht's: An jedem Wochenende dasselbe Spiel in Leutzsch. Foto: Christoph Grandke
Allerdings zeigt ja schon ein flüchtiger Blick in deine Bücher, dass der Staat das damals scheinbar schon ein bisschen anders gesehen hat. Die Chemiker füllten bereits Ende der 60er etliche Aktenordner der Stasi. In den 70ern waren dann schon mehrere Inoffizielle Mitarbeiter im Einsatz, die die Fans ausspionieren sollten. Das klingt doch vollkommen verrückt, dass ein Geheimdienst derart viel Aufhebens für im Grunde „stinknormale“ Fußballanhänger macht. Haben die das vollkommen anders eingeschätzt? War das alles reine Paranoia?
Reine Paranoia aus heutiger Sicht. Das zeigt, wie wenig man der eigenen Jugend vertraute und auch, wie unsicher man sich der eigenen Mittel war. Letzten Endes konnten all die Spitzel, Berichte und Kilometer voller Papier nichts verhindern: Nicht, dass die Fans aufmüpfig waren, gegen den Staat und die von ihm geförderten Clubs. Nicht, dass es Gewalt und Randale gab. Nicht, dass die DDR unterging, woran Fußballfans genau so viel oder wenig wie alle anderen Bürger ihren Anteil hatten.
Allerdings war Chemie doch – wie einige andere Klubs im Übrigen auch – recht bald ein Hort von Dissidenten, oder?
Ein Hort von Dissidenten war Chemie ganz sicher nicht, aber ein Biotop für Aufsässige und Widerspenstige. In Band zwei erzählen wir ja die Geschichte der berühmtesten von ihnen, den "Grünen Engeln". Alle straff anti-kommunistisch, trinkfest und dem Westen treu ergeben. Und das bereits Mitte der 70er Jahre.
Was ja für einige im Knast und für zumindest einen auch als Stasispitzel endete… Blieben denn die von Dir angesprochenen Pöbeleien folgenlos?
Für uns ja, warum auch immer. Man darf nicht vergessen: Die DDR war trotz aller Überwachung kein Orwells "1984". Da gab es riesige Lücken, Freiräume und manchmal auch schlicht andere Bewertungen. Und wenn ein Stasimann bepöbelt wurde - wenn man ihn erkannte oder es vermutete - war das jetzt sicher nicht der Weltuntergang. Jedenfalls in den wenigen Fällen, wo ich das erlebt habe, das ist aber vielleicht nicht allgemein gültig.
In den 80er-Jahren gab es eine Zeit, in der Chemie- und Lok-Fans gemeinsam zu bestimmten Spielen gefahren sind. Zum Beispiel nach Berlin. Unter welchen würdest Du als glühender Chemiker der Loksche heute die Daumen drücken?
Gar nicht. Ich respektiere die wahren Fans dort, weil sie genau so lieben und leiden wie jeder Fußballfan. Ich verabscheue Gewalt und hirnlose Schläger - schon immer und egal, auf welcher Seite - sowie blindwütige und niveaulose Menschen. Egal wo. Zudem habe ich mir schon seit langer Zeit angewöhnt, auf mich selber und auf meinen Verein zu schauen statt sich an anderen abzuarbeiten. Das reicht auch völlig aus und ist wesentlich positiver. Das Verhältnis zu Lok ist vielschichtig, aber am Ende unwichtig. Dort entscheidet niemand mehr über das Wohlbefinden meines Vereins.
Wenn man es so will, war die Rivalität zwischen Lok und Chemie ja auch ein bisschen Handwerk des Staates. Lok wurde nach dem Zweiten Weltkrieg offiziell zur „besseren Mannschaft“ erklärt und durch Partei und Institutionen entsprechend unterstützt. Auch wenn es bei Chemie zumindest den Support der SED-Kreisleitung gab, wurde die Mannschaft ja auch auf einmal aufgelöst. Schaut man nun in die ersten beiden Teile der Trilogie, hat man allerdings nicht den Eindruck, dass das dem Chemie-Enthusiasmus irgendwie Abbruch getan hätte.
Nein, das stimmt, und es wird ja auch ausführlich erklärt von dutzenden Zeitzeugen: Chemie war einfach eine Art Weltanschauung, die aber auch gar nichts mit der Qualität des gezeigten Fußballs zu tun hatte. Sie speiste sich aus den Besonderheiten der Vereinsgeschichte: die Wurzeln in der Arbeiterbewegung und die frühe Anti-Haltung zum bürgerlichen VfB, die sich später manifestierte, als dessen Nachfolger 1. FC Lok durch die Politik klar bevorteilt wurde. Die Leute haben das einfach nicht verstanden und lehnten das vehement ab. Die Auflösung der BSG Chemie 1954 als Vizemeister fand ebenfalls kein Verständnis, eben so wenig wie die "Delegierung" von gleich sieben Stammspielern zur Armeemannschaft Vorwärts Leipzig im Jahr 1952.
Ist daraus also auch Ablehnung zum Staat entstanden?
Alles das erzeugte eine frühe Art an Oppositionshaltung. Ich nenne es eher eine "Unbotmäßigkeit". Und die war ja in der DDR vor allem unter Jugendlichen weit verbreitet. Als dann 1964 Chemie durch die wirre Sportpolitik seinen Oberligaplatz zurück bekam, dann aber statt abzusteigen sogar DDR-Meister wurde, konnte man die Schadenfreude greifen, die bei den Leuten aufkam. Das war der Sympathie-Treibstoff bis heute, wenn auch stark abgeschwächt. Heute sind andere Fan-Generationen am Werk, die aber meist sehr geschichtsinteressiert sind und sich auf all diese Geschehnisse berufen.
Alles für die Trilogie: Chroniken wurden von vielen Fans und Fanclubs geführt und lieferten wertvolle Beiträge für den Chemie-Dreiteiler. Foto: privat
Die heutige Fangeneration ist ein gutes Stichwort: Der Verein hat für die Liga-Verhältnisse einen Wahnsinns-Support. Ist es zurzeit hip, Chemie-Fan zu sein, wie es an manchen Ecken der Regionalliga behauptet wird? Wie siehst Du diese Entwicklung?
Was heißt hip? Das ist ein Wort, das Oberflächlichkeit suggeriert, Beliebigkeit, Austauschbarkeit. Deshalb ist es irreführend. Es ist in dieser Stadt sicherlich in den letzten Jahren wieder eine gute Alternative geworden, sich mit Chemie einzulassen. Die Gründe dafür kann ich klar definieren. Dieser Verein steht für etwas, nicht gegen etwas. Die Werte, die hier gelebt werden, sind welche, mit denen man sich identifizieren kann. Achtung und Respekt vor Herkunft und Hautfarbe oder sexueller Orientierung von Menschen sind Selbstverständlichkeiten, müssen aber noch zu oft verteidigt werden. Das ist das eine. Auf der anderen Seite ist es faszinierend, welche Kraft und Energie dieser Verein zur Selbsterneuerung hat, wie immer wieder Neues entspringt. Unfassbar für mich, wenn ich die letzten Jahre des FC Sachsen vor Augen habe, vor sich hin siechend, klinisch tot, überaltert, ohne jede Stimmung, voller triefender Bräsigkeit und austauschbar mit jedem beliebigen Kackverein. Jetzt hingegen kommen tonnenweise junge Leute, die "Kinderwagen-Brigade", also junge Mädels mit ihrem Nachwuchs, die an jeder Ecke anpacken. Ich sehe Alte, die sich auch wieder einbringen. Und dann die tolle Stimmung bei den Spielen, die eindrucksvollen Fahrt nach Cottbus zum Beispiel, wo man nach dem 0:5 gar nicht wusste, wer gewonnen oder verloren hatte, weil Chemie so euphorisch gefeiert wurde:
Oder der gemeinsame Marsch von 1200 Leuten zum Ortsderby und das eindrucksvolle Auftreten vor Ort, der Sonderzug und der Fanmarsch mit 1500 Leuten beim BFC … All das und noch viel mehr beeindruckt und macht Lust auf diesen Verein. So einfach ist das.
In den 60er Jahren wurden von der etablierten Fußballpresse nicht selten Dinge geschrieben, die einen heute laut auflachen lassen. Zum Beispiel die Geschichte, als in der „FuWo“ gefordert wurde, die Chemie-Fans mögen doch bitte ihre „Lärmutensilien“ zuhause lassen, weil das einfach nichts mit vernünftiger Fanunterstützung zu tun hätte. Was war das Dümmste, das jemals über die BSG Chemie Leipzig in der Zeitung stand?
Das war erst vor kurzem nach dem Ortsderby, als Lok- und Chemiefans gleichgesetzt wurden als Rowdys und Randalierer. So funktionieren die meisten Medien heute natürlich, aber wenn dann einer vom anderen abschreibt und dann die Dinge auch noch ins Gegenteil verkehrt, hört das Verständnis auf. Chemies Auftritt beim Derby bei Lok war der coolste ever. 1200 Mann, alle in weiße und grüne Jacken gekleidet, mit 90-minütigem Dauersupport von Alten und Jungen gemeinsam, eine geile Pyroshow - das war lehrbuchreif. Nur die Raketen, die vereinzelt flogen, sind nicht hinnehmbar, die gefährden andere Leute. Das war komplett überflüssig und hat das Bild auch entsprechend getrübt. Aber im Gegensatz dazu auf der anderen Seite nur die dumpfen Rufe gegen die andere Mannschaft, anstatt die eigene Truppe anzufeuern, Vorbereitungen zum Platzsturm mittels angeflexter Zäune und das Werfen von Pyro-Fackeln auf die Polizei und Ordner - jeder soll sich sein eigenes Bild machen.
Das Gespräch führte Marc Schütz
Jens Fuge (Hg.): "Steigt ein Fahnenwald empor (Chemie Leipzig und seine Fans, Band 1)", ISBN: 978-3-9816023-5-7. 640 Seiten, 1500 Abbildungen. 35 Euro.