2024-09-18T12:22:00.113Z

Allgemeines

Als aus Turnern Fußballer wurden

+++ Vor 100 Jahren gründeten Gießener Arbeitersportler unter dem Dach der Freien Turnerschaft eine eigene Fußballabteilung +++

GIESSEN - Es ist nicht viel mehr als ein Steinwurf, der die Fußballer der Freien TSG und des FC Gießen räumlich trennt, aber gegensätzlicher könnten die Fußballwelten der beiden Clubs derzeit kaum sein. Während der neuformierte FC Gießen - ausgestattet mit reichlich Sponsorengeld - im Waldstadion gerade den Aufstieg in die Regionalliga feierte, mussten die Männer von der Liebigshöhe nur wenige Meter entfernt den bitteren Gang in die Kreisliga B antreten. 0:9 (!) hieß es im entscheidenden Spiel gegen die Konkurrenz vom SC Sachsenhausen, womit im Grunde schon alles gesagt ist.
Dabei haben eigentlich auch die Freien Turner in diesem Jahr Grund zu feiern, denn vor genau 100 Jahren haben sie mit dem Fußballspielen begonnen und heute sind sie, nach dem Aufgehen des VfB 1900 im FC Gießen, der Fußballverein der Stadt, der auf die längste Geschichte seiner Fußballabteilung zurückblicken kann. Und noch etwas zeichnet den Verein in der Gießener Sportlandschaft aus, verkörpert er doch als ehemaliger Arbeitersportverein eine ganz besondere Epoche der nationalen Sport- bzw. Fußballhistorie.
Gegenentwurf

Die Arbeitersportbewegung formierte sich in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenentwurf zum sogenannten bürgerlichen Sport, der Arbeitern bisweilen schlicht die Mitgliedschaft verweigerte oder sie aufgrund ihrer politischen Gesinnung mitunter auch aus den Vereinen ausschloss. Vor allem der im deutschen Kaiserreich grassierende Nationalismus, der auch vor den Sportvereinen nicht Halt machte, war den auf politische Teilhabe und internationale Solidarität zielenden Gründungsvätern des Arbeitersports ein Dorn im Auge. Folglich kam es 1893 in Gera zur Gründung eines eigenständigen Arbeiter-Turnbundes, der sich von Beginn an als Teil der internationalen Arbeiterbewegung verstand.
Auch in der oberhessischen Provinz in Gießen fiel dieser Impuls einige Jahre später auf fruchtbaren Boden, und so versammelte sich am 9. November 1902 in der Gaststätte "Zum Pfau" in der Neustadt eine Gruppe von Männern, die sich daran machte, an der Lahn einen Arbeitersportverein ins Leben zu rufen. Aus Frankfurt war an diesem Tag extra ein Funktionär des dortigen Arbeiter-Sportkreises angereist, der die Gründungsväter der Gießener Arbeitersportbewegung noch einmal auf die "Bedeutung der sportlichen Betätigung der Arbeiterschaft innerhalb einer eigenen Organisation" einschwor. Gesagt, getan, und Georg Baum wurde sogleich zum Vorsitzenden der "Freien Turnerschaft Gießen" gewählt. Ihrem Gründungsort blieben die heimischen Arbeitersportler übrigens verbunden, diente ihnen der "Pfau" doch noch über Jahre als Vereins- und Turnlokal.
Zunächst spielte der Fußball bei Gießens Freien Turnern allerdings noch keine Rolle, denn es wurde vor allem geturnt. Erst nach dem Ende des 1. Weltkrieges, in dem der Fußballsport einen erstaunlichen Aufschwung nahm und sich das Spiel mit dem runden Leder in den Ruhequartieren der Millionen von Frontsoldaten zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung entwickelt hatte, wuchs der Wunsch, dass auch in der Arbeitersportbewegung zukünftig Fußball gespielt werden sollte. So auch bei den Arbeitersportlern in Gießen, die 1919 unter Leitung von Andreas Wagner ihre eigene Fußballabteilung ins Leben riefen.
Eigenes Nationalteam

Auf den ersten Blick unterschied sich der Arbeiterfußball kaum von dem Spiel, das in den bürgerlichen Vereinen betrieben wurde. Auch hier war der Ball rund, es spielten elf Mann in jeder Mannschaft, und ein Schiedsrichter achtete darauf, dass die Regeln eingehalten wurden. Es gab einen Ligabetrieb, es wurden regionale und nationale Meisterschaften ausgespielt und es existierte sogar eine eigene Nationalmannschaft, die Bundesauswahl, die zwischen 1924 und 1932 mehr als 70 internationale Begegnungen bestritt und sogar an Europameisterschaften teilnahm. Der wesentliche Unterschied zum Fußball unter dem Dach des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) lag in der ideologischen Ausrichtung des Sportbetriebs, da sich die Arbeitersportbewegung immer als Teil der Arbeiterbewegung und ihrer auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung hin ausgerichteten politischen Zielsetzung verstand.
Der Magdeburger Fußballhistoriker Rolf Frommhagen schrieb in diesem Zusammenhang, der Arbeiterfußball habe "versucht, sich qualitativ vom bürgerlichen Fußball durch ein technisch hochwertiges und faires Spiel abzuheben, das zwar auch den Sieg anstrebte, aber nicht um jeden Preis und nur unter Einsatz erlaubter Mittel. Fair spielen und fair verlieren war ethisches Gebot. Im Vordergrund der Sportausübung stand die allgemeine Körperertüchtigung und Erziehung für die Verwirklichung der politischen Zielsetzungen."
Inwieweit dieser theoretische Überbau den einzelnen Fußballer auf dem Platz tatsächlich interessiert und tangiert hat, sei einmal dahingestellt, in jedem Fall war der Arbeiterfußball weit mehr als eine Randerscheinung. Mitte der 1920er Jahre beteiligten sich rund 5000 Mannschaften an der Bundesmeisterschaft und vor allem in seinen Hochburgen Berlin, Leipzig, Dresden, Hamburg oder Nürnberg, erfreute er sich großer Beliebtheit. Fünfstellige Zuschauerzahlen, etwa bei internationalen Begegnungen oder den Endspielen um den Bundestitel, waren keine Seltenheit.
Eine solche Resonanz hat es in Gießen und Umgebung zwar nie gegeben, aber auch hier schlug der Arbeiterfußball Wurzeln und war durchaus populär. In vielen Orten entstanden Fußballmannschaften der Arbeiter. Naunheim, Heuchelheim und Wieseck sowie die Freie Turnerschaft aus Gießen galten als die stärksten Mannschaften im heimischen Raum. Auf der offiziellen Ebene blieb das Verhältnis zwischen "bürgerlichen Fußballern" im DFB und Arbeiterfußballern oft angespannt. Sportliche Vergleiche waren eine absolute Ausnahme und der Wechsel eines Spielers von einem Lager in das andere konnte schnell im Vorwurf des Verrats münden.
Bei den Freien Turnern in Gießen war es zunächst die Jugendmannschaft, die auf sich aufmerksam machte, denn 1926 wurde sie nach einem Erfolg über Großen-Linden Bezirksmeister. Doch bereits ein Jahr später folgten ihr die Senioren, die sich diesen Titel mit einem 1:0 Sieg über Wieseck sicherten. 1930 gelang der Mannschaft sogar der Aufstieg in die Kreisklasse, seinerzeit die höchste Spielklasse im regional gegliederten Arbeiterfußball und vergleichbar mit der heutigen Hessenliga. Als herausragende Spieler galten damals vor allem Heinrich Bromm und Heinrich Wlodareck, die beide sogar ins Blickfeld der Bundesauswahl gerieten, auch wenn sie in offiziellen Länderspielen letztlich nie zum Einsatz kamen. International spielten sie aber trotzdem, denn ihre Kräfte maßen die Freien Turner aus Gießen auch mit Arbeiterfußballern aus Österreich und Belgien.
Die neuen nationalsozialistischen Machthaber bereiteten dem Arbeitersport im Frühjahr 1933 dann jedoch schnell ein Ende. Manchen Vereinen gelang es noch, unter das Dach der bürgerlichen Konkurrenz zu flüchten, viele andere lösten sich auf oder wurden verboten, ihr Vermögen eingezogen und ihre Mitglieder verfolgt. Auch die Freien Turner und ihre Fußballer waren betroffen, die jetzt ins bürgerliche Lager wechseln mussten, so sie denn weiter dem runden Leder nachjagen wollten.
Dies wurde jedoch mit Argusaugen beobachtet, wie man dem Gießener Anzeiger vom 19. Juni 1933 entnehmen kann, in dem der damalige Vorsitzende der SpVgg. 1900 Gießen feststellte: "Wenn heute die ehemaligen Mitglieder der marxistisch eingestellten Freien Turnerschaft in stattlicher Anzahl in gewisse bürgerliche Sportvereine strömen, dann ist diese Tatsache an sich erfreulich. Es muss aber unter allen Umständen darauf geachtet werden, dass diese Elemente nicht schon jetzt das Übergewicht in den einzelnen Mannschaften erlangen."
Über zwölf Jahre blieben die Arbeitersportler nun von der Bildfläche verschwunden, aber "der Geist der Zusammengehörigkeit lebte fort", wie es später in einer Vereinschronik heißen sollte. Und tatsächlich, am 28. Oktober 1945, nur wenige Tage, nachdem in Gießen erstmals nach dem Krieg wieder um Punkte Fußball gespielt wurde, erfolgte die Neugründung unter dem Namen "Freie Turn- und Sportgemeinde Gießen 1902". Zwar verwies die Jahreszahl noch auf die Wurzeln des Clubs, der Arbeitersport war aber eigentlich bereits Geschichte, denn die Neuorganisation des Sports, der sich nach 1933 wie viele Teile der Gesellschaft oft willfährig und in vorauseilendem Gehorsam den Nationalsozialisten angedient hatte, erfolgte im Geiste einer neuen demokratischen und einheitlichen Sportbewegung, in der kein Platz für ideologische Grabenkämpfe mehr sein sollte.
Blüte in 70- und 80er-Jahren

Das sah man in der Gießener Stadtpolitik übrigens ähnlich, erklärte doch Stadtrat Heinrich Wagner anlässlich des 50-jährigen Gründungsjubiläums der Freien TSG im Jahre 1952, es sei erfreulich, dass "das politische Moment beseitigt" sei und man sich nun auf die "sportliche Ertüchtigung der Jugend" konzentriere.
Ab 1946 wurde bei der Freien TSG wieder Fußball gespielt und beginnend mit dem Aufstieg aus der C-Klasse und dem Kreismeistertitel in der B-Klasse 1951, als das Team vor allem für seine nie erlahmende Kampfkraft bekannt war, wurde so manche Meisterschaft gefeiert. Die sportlich größten Erfolge konnten in den 1970er und 80er Jahren erzielt werden, als sogar einige Jahre auf der Bezirksebene gespielt wurde. Dabei kam dem Club nicht nur seine Jugendarbeit zugute, sondern auch das eigene Sportgelände an der Liebigshöhe, das man seit 1953 endlich besaß, nachdem man in den ersten Nachkriegsjahren zunächst im Sandfeld heimisch gewesen war, anschließend aber nicht selten für die Durchführung der Heimspiele auf die Gastfreundschaft anderer Vereine angewiesen war.
Heute - im Jahr des 100-jährigen Bestehens ihrer Fußballabteilung - dürfte es der Freien TSG wohl wie vielen Clubs in den Kreisligen in Deutschland gehen. Oft fehlt es am Nötigsten und das Vereinsleben hängt an einer Handvoll Einzelpersonen, vor deren Engagement man im Grunde den Hut ziehen müsste. Dabei ist die Liebigshöhe für die Fußballer wie für die Zuschauer mehr als einladend. Der Rasenplatz präsentiert sich selbst am Ende der Saison noch im satten Grün und beim Blick über das Spielfeld glaubt man sich in einen Wald versetzt, so üppig ist der Hang der ehemaligen Sandkuhle im Gießener Osten, in der der Platz einst angelegt wurde, mittlerweile bewachsen.
Und sogar an die Raucher unter den Fußballfreunden wird hier noch gedacht, werden sie doch beim Sportplatzbesuch mit Aschenbechern in Gestalt von ausrangierten Konservendosen empfangen, die man eigens an der Spielfeldumrandung angebracht hat. Einem baldigen Wiederaufstieg in die A-Klasse sollte da doch eigentlich nicht mehr viel im Wege stehen, schließlich haben der Verein und seine Fußballer in den vergangenen 100 Jahren schon ganz andere Zeiten überstanden.
Aufrufe: 06.7.2019, 13:01 Uhr
Christian von Berg (Gießener Anzeiger)Autor