2025-04-29T16:05:39.695Z 1746390924729

Allgemeines
– Foto: Jörg Struwe

Einblick ins Stader Sportgericht: Der Weg vom Platzverweis zum Urteil

Beschuldigter muss Schiri werden +++ Gesperrter Trainer sieht Rot xxx Mutter dreht durch

Wenn einem Rotsünder eine lange Sperre droht, beginnt die Arbeit des Kreissportgerichts. Es entscheidet über Sperren, Geldstrafen und ungewöhnliche Auflagen.

Tumulte im Januar bei einem Hallenturnier der SV Drochtersen/Assel: Kurz vor Spielende erzielt ein Spieler von D/A IV gegen den SSV Hagen II das 3:0. Torhüter und Angreifer geraten aneinander, der Torwart schubst und gibt seinem Gegner einen Klaps auf den Hinterkopf. Der reagiert mit einem Kopfstoß. Der Keeper sinkt blutend zu Boden.

Innerhalb von Sekunden stürmen rund 10 bis 15 Spieler, Trainer und Zuschauer auf das Spielfeld. Ein Trainer bedroht den Schiedsrichter: „Dich nehme ich gleich auch noch auseinander.“ Die Atmosphäre ist „aufgebracht“ und „recht aggressiv“. Der Schiedsrichter, der dem D/A-Spieler die Rote Karte zeigt, beschreibt die Situation genauso in seinem Spielbericht.

Sanitäter kümmern sich um den verletzten Torhüter, die Polizei nimmt eine Anzeige auf, und Hagen reist ab.

Spielausschuss hat begrenzten Strafrahmen

Ein Platzverweis landet direkt beim Spielausschuss der Herren, Michael Koch. Eine automatische Vorsperre tritt in Kraft, die bis zum Verwaltungsentscheid gilt, der meist innerhalb einer Woche erfolgt.

Gegen diesen Entscheid kann ein Verein Einspruch einlegen, was zwar kostenlos ist, aber insgesamt 70 Euro Gebühren nach sich zieht. Anschließend übergibt Koch den Fall an das Kreissportgericht, dem Robert Schlimm vorsitzt.

Wenn Koch der Meinung ist, dass eine Sperre von acht Pflichtspielen nicht ausreicht, gibt er den Fall weiter. „Das passiert meistens bei Angriffen gegen den Schiedsrichter, Schlägen gegen den Kopf oder wenn Spieler schon häufiger aufgefallen sind“, erklärt Schlimm. Beim Vorfall auf dem Hallenturnier sieht Koch seinen Strafrahmen als nicht mehr ausreichend an.

Kreissportgericht übernimmt, sichtet, diskutiert

Er gibt das Verfahren ab und Robert Schlimm aktiviert zwei Beisitzer. Der NFV-Kreis Stade hat insgesamt fünf von ihnen. Keiner darf Interessenkonflikte haben und etwa im selben Verein eines der beteiligten Teams sein.

Alle erhalten den Schiedsrichter- und Spielbericht. Schlimm informiert die betroffenen Vereine, von welchen Personen er Stellungnahmen benötigt. Der 62-Jährige und seine Beisitzer treffen sich anschließend - in Präsenz oder digital.

Das Trio diskutiert: Sind die Statements plausibel? Wie wurde in Präzedenzfällen entschieden? Welches Strafmaß ist fair? Ein besonderes Gewicht hat der Schiedsrichterbericht. „An ihm müssen wir uns laut Rechts- und Verfahrensordnung orientieren“, sagt Schlimm.

Videos als Beweismaterial zulässig

Im beschriebenen Fall schätzt das Kreissportgericht die Schilderung des Schiedsrichters als „sachlich und glaubwürdig“ ein. Die Stellungnahmen der Zeugen seien glaubhaft und der Spieler habe die Vorwürfe eingeräumt. Theoretisch könnten sie auch Videoaufnahmen sichten.

Schlimm formuliert das Urteil, begründet es und verschickt es an die Vereine. Darin steht, dass der Angreifer provoziert worden sei, was aber das „eigene unsportliche Verhalten“ nicht entschuldige. Das Gericht bewertet die Einsicht des Sportlers als positiv und sperrt ihn für sechs Monate. Es wären zwölf möglich gewesen.

Der Torhüter erhält für seine „leichte Tätlichkeit“ elf Wochen Pause, was drei Pflichtspielen entspricht. Das Gericht kann Sperren nur in Kalenderwochen aussprechen und das Urteil liegt in der Winterpause.

Bezirkssportgericht als nächste Instanz

Der Hagener Trainer wird zu 100 Euro verurteilt. Er bestreitet die vom Schiedsrichter getätigte Aussage. Das Gericht glaubt dem Unparteiischen. Der Verein muss zudem 50 Euro zahlen, weil er das Turnier vorzeitig verlässt.

Das gesamte Urteil ist fünf Seiten lang, an deren Ende eine Rechtsmittelbelehrung steht. Vereine können innerhalb von sieben Tagen Berufung beim Bezirkssportgericht einlegen. Das Geld wird direkt vom Vereinskonto abgebucht.

Wann eine mündliche Verhandlung nötig wird

Sollten Schiedsrichterbericht sowie die Stellungnahmen der Beschuldigten und Zeugen stark abweichen, eröffnet Robert Schlimm ein mündliches Verfahren. Der Prozess sei im Vergleich deutlich aufwendiger und dauert wegen vieler Fristen deutlich länger. Zwischen Vorfall und Verhandlung können sechs Wochen vergehen.

Für die Verhandlung darf Schlimm derzeit die Lokalitäten des TSV Wiepenkathen nutzen. Zunächst kommen alle geladenen Personen in einen Raum und Schlimm erklärt den gesamten Ablauf. Wer unentschuldigt fehlt, riskiert ein Ordnungsgeld. „Das ist in meiner Zeit noch nicht vorgekommen“, so Schlimm. Er ist seit sieben Jahren dabei, davon sechs als Beisitzer.

Zeugen sehen sich Ex-Polizisten gegenüber

Zu mündlichen Verhandlungen kommt es erfahrungsgemäß zweimal pro Saison, wie etwa im Oktober 2024. Der Schiedsrichter bricht ein D-Jugendspiel zwischen dem JFV A/O/B/H/H und VfL Güldenstern Stade ab. Zuvor habe ein VfL-Trainer den 19-jährigen Unparteiischen beleidigt und bedroht. Sein Kollege fällt ebenfalls auf. Die vom Gericht eingeholten Aussagen passen nicht richtig zusammen.

Nacheinander reden Schlimm und seine Beisitzer mit den Angeklagten und Zeugen. Wer ausgesagt hat, darf im Raum bleiben. Schlimm war 42 Jahre Polizeibeamter, kennt sich mit solchen Befragungen aus und kann Lügner entlarven. „Man kann auch direkter auf die Personen einwirken“, sagt Schlimm.

Das klappt hier nicht. „Er (der Beschuldigte) sieht während der gesamten Verhandlung keinen eigenen Beitrag, der zu der hier verhandelten Situation geführt haben könnte. Die Ursache wird ohne Reflexion beim Schiedsrichter gesehen. Das ist wenig glaubhaft“, steht in der Urteilsbegründung später, die Schlimm nach einer 30-minütigen Beratungspause vorträgt. In der Summe muss der VfL 380 Euro bezahlen und verliert das Spiel am Grünen Tisch mit 0:5.

Gesperrter Trainer sieht Rot - Mutter dreht durch

“Bei Spielern wirken Sperren mehr als Geldstrafen“, glaubt Schlimm. Das Kreissportgericht hat noch mehr Mittel, wie ein Verfahren im vergangenen September zeigt. Bei einem U16-Spiel zwischen der SV Drochtersen/Assel und der JSG Altes Land rastet ein Trainer der Altländer aus.

Er sieht die Rote Karte, weil er „Scheiß Schiedsrichter“ ruft. Anschließend will er die Technische Zone nicht verlassen, schreibt der Unparteiische in seinem Bericht. Pikant: Später kommt heraus, dass er als Teamoffizieller bereits gesperrt ist.

Beschuldigter muss Schiri werden

Sein Statement gegenüber dem Gericht stuft dieses als uneinsichtig ein. Der Verein muss in der Summe 635 Euro zahlen und der Trainer erhält eine Sperre von acht Monaten, davon vier Monate auf Bewährung. Voraussetzung dafür: Der Beschuldigte muss eine Schiedsrichterausbildung machen und mindestens fünf Spiele als Schiedsrichter leiten. „Sie sollen durch den Perspektivwechsel merken, wie es ist, in der Rolle eines Schiedsrichters zu sein“, erklärt Schlimm.

Ein Teil der Geldstrafe geht auf die Mutter eines Spielers. Sie betritt den Rasen, zeigt dem Schiedsrichter beide Mittelfinger und beleidigt mehrmals dessen Mutter. Mehrere Personen müssen sie zurückhalten. Auch im Fall des SSV Hagen gibt es „diskriminierendes Verhalten von Vereinsanhängern“. Da das Sportgericht diese nicht direkt belangen kann, müssen die Vereine zahlen. „Sie sind für ihre Fans verantwortlich“, sagt Schlimm.

Gewalt im Fußball: Wer nicht hören will, muss zahlen

In den Jahren 2018 bis 2021 gab es insgesamt 15 Sportgerichtsverfahren, schildert Schlimms Vorgänger Roland Aue in seinem letzten Bericht auf dem Kreistag im Juni 2024. Alleine in der aktuellen Saison sind es bereits 14 Verfahren. „Die Hälfte davon sind aus Jugendspielen“, berichtet Schlimm. Das meiste komme von außen, und sowohl Eltern als auch Trainer sollten wieder in ihre Vorbildfunktion schlüpfen, findet er.

Das Gericht urteilt bislang eher milder als zu hart. „Wenn es weiter ausufert, werden wir das anziehen müssen“, sagt Schlimm. Im Falle der beleidigenden Mutter hätte der Strafrahmen das Fünffache erlaubt. Vielleicht nehmen die Vereine ihre Leute mehr in die Pflicht, wenn es stärker ins Geld geht.

Aufrufe: 022.4.2025, 18:00 Uhr
Tageblatt/ Lars WertgenAutor