2025-04-11T12:14:20.922Z 1744505973433

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Der MSV Duisburg lockt in der Regionalliga mehr Zuschauer an als es in der 2. Bundesliga der Fall war.
Der MSV Duisburg lockt in der Regionalliga mehr Zuschauer an als es in der 2. Bundesliga der Fall war. – Foto: Imago Images

Und alles nur, weil ich dich liebe

Fußballfans müssen mit ihren Herzensvereinen so einiges ertragen – blamable Pleiten, finanzielle Skandale, bittere Abstiege. Trotzdem kommen sie immer wieder. Was steckt hinter dieser Faszination am Leiden?

Als sein Verein den nächsten Tiefpunkt erreicht, ist Danny Wustlich trotzdem da – im Herbst 2020. Ein Jahr zuvor ist der MSV Duisburg aus der 2. Bundesliga abgestiegen und verpasst in der Saison drauf den direkten Wiederaufstieg. Nun unterliegen die Zebras vor einer coronabedingten Geisterkulisse mit 0:2 im Niederrhein-Derby gegen den KFC Uerdingen. Weil mitten in der Pandemie keine Zuschauer zugelassen sind, steht MSV-Fan Wustlich draußen vor den verschlossenen Toren der Schauinsland-Reisen-Arena und kann dem Niedergang seines Herzensklubs nur machtlos über den Live-Ticker auf seinem Smartphone zuschauen. Ein Grund sich abzuwenden? Auf keinen Fall. „Du hast dir den Verein ausgesucht. Du wechselst ja auch nicht nach sechs Jahren die Frau, nur weil die mal ein Bein verliert. Duisburg is’ Duisburg, ich scheiß‘ auf die andern.“ Zu sehen ist dieser Akt schier unzerbrechlicher Vereinsliebe von Wustlich, der 2024 nach einem Herzinfarkt stirbt, in der Sportschau-Doku „Nie mehr erste Liga? Traditionsvereine nach dem Absturz“.

Für den MSV geht es in der Folge nach fünf haarsträubenden Jahren der Drittklassigkeit im vergangenen Sommer sogar noch weiter runter. Der 1902 gegründete, stolze Traditionsverein aus dem Ruhrgebiet muss das erste Mal in seiner Vereinsgeschichte in der vierten Liga antreten. Plötzlich heißen die Gegner Eintracht Hohkeppel, Türkspor Dortmund und SC Wiedenbrück. Der nächste Tiefpunkt in Meiderich ist erreicht. Doch auch den stecken die MSV-Fans weg. Wie ein Boxer, der in den Seilen hängt, aber einfach nicht K.o. gehen will. Mehr als 16.000 Zuschauer besuchen aktuell im Schnitt die Duisburger Heimspiele in der Regionalliga, so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. 6000 Dauerkarten verkauft der Verein – Rekord für Saisons unterhalb der Bundesliga. Auch auswärts werden die Zebras regelmäßig von mehr als 3000 Fans begleitet, und damit von bedeutend mehr Menschen als so mancher Bundesligist.

Dass Fans trotz aller Rückschläge weiterhin zu ihrem Verein stehen und fast schon auf stoische Art und Weise gerade dann ins Stadion strömen, wenn der vermeintlich tiefste Tiefpunkt erreicht zu sein scheint, ist keineswegs ein exklusives Phänomen aus Duisburg-Meiderich. Überall in Deutschland ziehen kriselnde Traditionsvereine, strauchelnde Bundesligisten und gefallene Riesen ausgerechnet dann besonders viele Menschen an, wenn es so gar nicht läuft.

Traditionsvereine ziehen die Massen an

Der Hamburger SV stellte im vergangenen Jahr – immerhin der sechsten Zweitliga-Saison in Serie – einen neuen Zuschauerrekord auf. Hertha BSC lockte in der Abstiegssaison 2022/23 so viele Fans wie nie zuvor ins Olympiastadion und hält diesen Schnitt auch im Kampf um den Klassenerhalt in der 2. Bundesliga. Nach mehr als dürftigen Jahren und einer durchwachsenen Hinrunde führte Gladbach zur Winterpause dennoch die Auswährtsfahrer-Tabelle an. Und auch die in den vergangenen Jahren auf eine beispiellose Art und Weise von Leid gebeutelten Schalke-Fans füllen weiterhin wie selbstverständlich die Arena, ganz gleich, ob nun Bayern oder Ulm auf dem Videowürfel steht, und reisen beständig mit mehr Menschen zu den Auswärtsspielen als jeder andere Klub.

Auch im Kleineren halten Fans ihren Vereinen die Treue, versuchen in Uerdingen mit aller Macht die fünfte Insolvenz zu verhindern, widersetzen sich bei 1860 München über Jahre einem dubiosen Investor oder kommen zu 30.000 an den Tivoli, wenn ihrer Alemannia nach elf Jahren in der Bedeutungslosigkeit zumindest mal wieder die Rückkehr in die 3. Liga gelingt.

„In schlechten Zeiten müsst ihr Schalker sein. In guten gibt es genug davon“, hieß stets das Motto des langjährigen S04-Betreuers Charly Neumann. Doch wieso sind Fans dafür überhaupt empfänglich? Was treibt sie immer und immer wieder zu ihrem Verein, so schlecht er auch dastehen mag. Wie groß ist die Faszination am Leiden, die ja offenbar mit der Leidenschaft eines jeden Fans verankert ist?

Gemeinschaft und Geselligkeit

Auch wenn es bisweilen anders wirken kann, hat das Fußballfan-Dasein herzlich wenig mit Masochismus oder Kasteiung zu tun. Kein Mensch geht ins Stadion und hofft ernsthaft, dass sein Verein verliert. Dennoch benötigt es die schmerzhaften Niederlagen, um große Siege überhaupt adäquat feiern zu können. Negative Emotionen helfen, die positiven Gefühle deutlich intensiver wahrzunehmen. So steckt in jeder sportlichen Krise auch immer das Hoffen auf bessere Zeiten. Eine Achterbahn, die den Wagen nur nach oben zieht, macht ebenso wenig Spaß wie eine, die nur abwärtsfährt. Die Vita eines Fußballfans muss so wie jede Achterbahnfahrt aus Auf und Abs bestehen.

Zumal sie in dieser Achterbahn ja nie alleine sitzen, Fans erleben die Höhen und Tiefen im Kollektiv. Im Fanclub, mit der Ultra-Gruppe, mit Freunden, Familie oder dem eigentlich zu Spielbeginn noch fremden Mann einen Platz weiter, der sich zunächst noch mürrisch hinter seinem Schal vergräbt, spätestens aber beim ersten Tor so euphorisch in die Jubelmasse eintaucht, als würde er die Menschen um ihn herum schon jahrelang kennen. Auch deshalb kommen sie immer wieder – egal ob in Gelsenkirchen, Aachen oder Duisburg. Fußball ist Gemeinschaft und Geselligkeit, egal in welcher Liga.

Dabei schafft der Stadionbesuch in einer immer komplexer werdenden Welt mit unzähligen Krisen und einer auseinanderdividierenden Gesellschaft einen Rahmen, um zumindest kurzzeitig alles andere ausblenden zu können. Das Stadion als letzter Ort des Abschaltens, und das sogar im Falle einer Pleite des Herzensvereins. 90 Minuten Meckern für das Seelenheil.

Zumal die Vergangenheit ja beweist, dass auch jede noch so schlimme Krise irgendwann überwunden wird. „Nach all der Scheiße, geht's auf die Reise“, sangen die Stuttgarter über ihre Rückkehr nach Europa. Und auch die Fortuna hat die Zeit in der Oberliga überlebt. Bis dahin gedenken die Fans der besseren Zeiten. Erinnern sich gemeinsam an magische Champions-League-Nächte in Mailand oder rauschende DFB-Pokal-Siege in Berlin, während die Mannschaft auf dem Rasen die vierte Niederlage in Serie zusammenstolpert. Und sicher ist: Sie werden auch bei der fünften und sechsten Pleite wieder da sein. Weil der Verein sie braucht, weil sie aber auch den Verein brauchen. Weil die Liebe zum Klub irgendwie immer da war und auch immer bleiben wird. Weil sie auch in schweren Zeiten an ihrem Verein hängen und alles in ihrer Macht Stehende tun werden, damit es mit dem Herzensklub wieder bergauf geht. Oder wie Danny Wustlich gesagt hätte. „Duisburg is’ Duisburg, ich scheiß‘ auf die andern.“

Aufrufe: 06.4.2025, 07:00 Uhr
Sebastian KalenbergAutor